Fünf Jahre Griechenlandsolidarität – ein Rückblick

Die Griechenland-Solidarität Saarbrücken – Aufklärung über europäische Verhältnisse seit 2015.

Ein Essay über unbequeme Zusammenhänge und anhaltendes Unrecht von Matthieu Choblet.

Wer Pleite-Griechen sagt, muss auch Austerität sagen. Die Griechenland-Solidarität Saarbrücken klärt über europäische Politik auf und fordert Solidarität mit den Opfern ein.

Arbeitslosen- und Schuldenquoten, die über dem Durchschnitt liegen, eine Industrie, die ihre besten Tage hinter sich hat, zurückgehende Bevölkerungszahlen – nein, es geht hier ausnahmsweise nicht um das Saarland, sondern um Griechenland.

Der kleine Ägäis-Staat ist vielen Deutschen in erster Linie aus dem Geschichtsunterricht oder dem Urlaub bekannt. Politisch Interessierte erinnern sich darüber hinaus an die Schlagzeilen des Jahres 2015 – „Verkauft doch Eure Inseln, Ihr Pleitegriechen“, um nur einen populären Zeitungstitel zu nennen. Den Einwohnern des bankrotten EU-Mitglieds schlug damals aus dem deutschen Medien- und Politikbetrieb eine Verachtung entgegen, wie zuvor allenfalls Sozialhilfeempfängern. Die seit 2007 anhaltende Krise der Banken und institutionellen Anleger war hingegen von einer Finanz- zu einer Staatsschuldenkrise umgedeutet worden.

Gegen diese Verachtung und gegen eine irrsinnige Schurken-, nein, „Schuldenstaaten“-Diskussion hat sich 2015 die Griechenland-Solidarität Saarbrücken zusammengeschlossen. Was mit einer satirischen Aktion auf dem Max-Ophüls-Platz begann, bei der im Namen einer Treuhand griechische Inseln und „echte“ Akropolis-Steine zum Kauf geboten wurden, hat sich seither zu einem Verein entwickelt, der regelmäßig an die Öffentlichkeit tritt. Die Griechenland Solidarität veranstaltet Vorträge und Lesungen über das Elend der europäischen Krisenpolitik und den Stand der europäischen Integration. Sie verkauft griechische Produkte und spendet den Erlös an bedürftige Einrichtungen wie die Solidaritäts-Klinik in Thessaloniki oder ein Gesundheitszentrum auf Kreta. Griechenland wird dabei als exemplarischer, aber nicht einziger Fall europäischer Krisenpolitik betrachtet.

Finanz- und Wirtschaftskrise

2015 war das Urteil in den meisten deutschen Medien einhellig: Die faulen Griechen hatten sich durch Tricksen und Täuschen die Euro-Mitgliedschaft erschlichen und anschließend jahrelang „über ihre Verhältnisse“ gelebt. Zwar wollten die Märkte nach Ausbruch der Finanzkrise die südländischen Schuldensünder zur Rechenschaft ziehen. Doch diese hatten die Warmherzigkeit der Bundeskanzlerin ausgenutzt, um 2010 alle Schulden auf die Rest-Europäer abzudrücken, also vornehmlich auf den ehrlich-unschuldigen deutschen Steuerzahler. Die „Hausaufgaben“, die Athen im Gegenzug anempfohlen wurden (Sparen wie die schwäbische Hausfrau), hatten die Griechen anfangs mehr schlecht als recht umgesetzt, ehe sie 2015 alle guten Vorsätze über Bord warfen und ausgerechnet den linken Alexis Tsipras zum Ministerpräsidenten machten.

Soweit die offizielle Erzählung – vergessen war die Entfesselung der Finanzmärkte durch die EU, vergessen die Bankenkrise und die weltweite Stagnation vieler Wirtschaftszweige vor 2010, vergessen die deutsche Niedriglohn- und Exportpolitik, ohne die die Ungleichgewichte in der Eurozone nicht denkbar wären.

Zur Erinnerung: Das Exportland Deutschland – schon in den achtziger Jahren ein Hauptprofiteur des europäischen Binnenmarktes – brach in den 2000er Jahren alle „Exportmeister“-Rekorde. Durch den Wegfall der Wechselkurse in der Währungsunion und durch die Agenda-Politik verschafft sich Deutschland einen satten Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Ländern, dank dem die Handelsbilanz-Überschüsse regelmäßig über der EU-Vorgabe von maximal sechs Prozent der Jahreswirtschaftsleistung liegen (zuletzt etwa bei 7,4 Prozent oder 260 Mrd. Euro).

Diese Überschüsse wären nicht möglich, wenn nicht auch jemand bereit wäre, entsprechende Defizite aufzubauen. Zudem mussten die hinzugewonnenen Vermögen irgendwo angelegt werden. Weil den deutschen Anlegern die Renditen im Bundesgebiet schon vor Jahren zu niedrig waren, entschieden sich viele für das Ausland. Die Währungsunion kam dafür sehr gelegen, denn sie eröffnete ertragreiche Anlagemöglichkeiten ohne Wechselkursrisiko in der Euro-Peripherie. Ärgerlich nur, wenn eine Finanzkrise das ausgeklügelte System durcheinanderwirbelt: Rund 30 Mrd. Euro an deutschen Vermögen in Griechenland mussten 2010 als gefährdet gelten.

Bei der Aufarbeitung der Krise und ihren Folgen stellte sich immer wieder die Frage, wie sich die „ganze Geschichte“ erfassen und an ein breites Publikum vermitteln ließe. Auf Einladung der Griechenland-Solidarität präsentierten Mitglieder der Bremer Shakespeare Company im Februar 2019 eine szenische Lesung im Theater im Viertel mit Textpassagen aus dem sechshundertseitigen Krisen-Protokoll des Ökonomen und Politikers Yanis Varoufakis.1

Strafe für die Schuldensünder

Varoufakis hatte in den ersten sechs Monaten der Regierung Tsipras die undankbare Aufgabe, die Finanzminister der Euro-Gruppe mit den katastrophalen Folgen ihrer Austeritätspolitik zu konfrontieren und für eine demokratische und humane Lösung der Krise zu werben. In den Gesprächen mit mächtigen Vertretern der EU und des Internationalen Währungsfonds (IWF), die Varoufakis dokumentiert hat, entpuppt sich die „Rettung“ Griechenlands als eine perfide Falle.

Für die Bundesregierung unter Angela Merkel und Wolfgang „die schwarze Null“ Schäuble durfte sich auf keinen Fall offiziell wiederholen, was 2008 geschehen war, als die deutschen Banken mit einem 480 Mrd.-Euro-Paket gerettet werden mussten. Daher wurde beschlossen, die Notfallkredite fortan nicht mehr direkt an die Finanzinstitute zu zahlen, sondern die ohnehin überschuldeten Euro-Staaten dafür in Haftung zu nehmen. So diente der vorgeblich an Griechenland gerichtete 110 Mrd.-Euro-Kredit vom Mai 2010 überwiegend dem Wohl deutscher und französischer Banken, während der entmündigte Kreditnehmer dem Diktat der „Troika“ unterworfen wurde.

Die Strukturanpassungsprogramme, die dieses Gremium aus Vertretern von EU-Kommission, EZB und IWF entwarf, sahen vor, dass der Schuldner gleichzeitig die Kosten der Bankenrettung begleichen und sich einer radikal neoliberalen Schrumpfkur unterziehen sollte. Es ist eine Frage ökonomischer Logik, dass der Schuldendienst unter den Bedingungen einer schrumpfenden Wirtschaft nicht zu leisten ist. Die EU bestand dennoch auf die Exekution der Programme und bewies somit, dass für sie die Kapitalverwertung und die ideologisch verbrämte Lust am Bestrafen der „Schuldensünder“ über jedem Vernunftargument stehen.

Die Auflagen der Troika setzten drei Schwerpunkte: (1.) Die Zerschlagung des Arbeitsrechtes und des Rechts auf gewerkschaftliche Vertretung mit dem Ziel, das Lohnniveau zu senken, (2.) Rückbau der sozialen Sicherungssysteme insbesondere durch die Kürzung von Renten und Gesundheitsleistungen, (3.) Privatisierungen – die griechischen Flughäfen wurden etwa von der Betreibergesellschaft des Frankfurter Flughafens übernommen. Die Ausbeutung der Athener Wasserwerke durch private „Investoren“ konnte bisher nur knapp abgewendet werden, wozu Claus Kittsteiner vom Berliner Wassertisch bei einem Vortrag in Saarbrücken berichtete.2

Als Folge dieser Politik verlor die griechische Wirtschaft ein Viertel ihrer Leistung, die Arbeitslosigkeit stieg zwischenzeitlich auf 27 Prozent und beträgt noch heute mindestens 16 Prozent. Ähnliches widerfuhr Irland, Portugal, Zypern und Spanien, wenn auch die Konsequenzen weniger drastisch waren. Die griechische Handelsbilanz ist indessen immer noch negativ, die Staatsschuldenquote höher als vor dem Eingriff der Troika.

Hetzjournalismus gegen die Opfer der Austerität

Haben deutsche Medien darüber berichtet, was deutsche Politik in Griechenland angerichtet hat? Die Frage ist insoweit zu bejahen, als das Ergebnis der Austerität durchaus in deutschen Medien dokumentiert ist. War die Gesellschaft bereit, die Verantwortung zu tragen? Dies ist fraglich. Stattdessen hat die Berichterstattung vielfach ein eigenwilliges Doppeldenk hervorgebracht: Ja, den Griechen geht es teilweise schlecht, aber nein, das ist kein Grund, das Austeritätsdiktat in Frage zu stellen – und außerdem ist selber schuld, wer sich nicht rechtzeitig eine Agenda 2010 verordnet hat.

Besonders hervorgetan in dieser Berichterstattung hat sich die B*LD-Zeitung, welche im August 2019 von der Stiftung Saarländischer Kulturbesitz mit einer Ausstellung im Deutschen Zeitungsmuseum in Wadgassen geehrt wurde. Die Griechenland-Solidarität nahm dies zum Anlass, die Besucher der Eröffnungsveranstaltung – darunter Ex-Chefredakteur Kai Diekmann – mit einem Banner und einer lautstarken Stellungnahme zu überraschen.3 Wie kein anderes Medium steht B*LD für menschenverachtenden, rassistischen und frauenfeindlichen Journalismus. Die Kritik richtete sich deshalb nicht nur gegen Diekmann sondern auch gegen die Kulturbesitz-Stiftung, die mit ihrer Ausstellung dem Hetzjournalismus ein Forum bot.4

An den Außengrenzen der Festung Europa

Mittlerweile schafft es Griechenland meist nur noch in die Schlagzeilen, wenn es um die Außengrenzen Europas geht. Das Land, das sich kaum von der ökonomischen und sozialen Katastrophe erholt hat, ist ebenfalls seit Jahren einer der Hauptlastträger der Entsolidarisierung Europas in der Migrationspolitik. Insbesondere das Lager Moria auf der Insel Lesbos erlangte traurige Berühmtheit. In dem sogenannten Hotspot – einem zentralen EU-Registrierzentrum für Geflüchtete – müssen die gestrandeten Menschen so lange ausharren, bis ihnen die Asylanhörung gewährt wird, ohne die sie nicht weiterkönnen. Ursprünglich für 2.500 Personen ausgelegt, beherbergt das Lager mittlerweile rund 20.000 Menschen, die teilweise länger als ein Jahr auf ihre Anhörung warten.

Das Lager gibt möglicherweise einen Vorgeschmack auf die weiteren Haftzentren, welche die EU in ihren Außenbezirken plant. Besser als es sich in Worte fassen ließe, hat der Saarbrücker Maler Till Neu das Elend der europäischen Grenzpolitik in seinen „Bildern für Griechenland“ erfasst. Die kleinformatigen Werke, die der Künstler im Juni 2019 bei einer Ausstellung in Sankt Arnual präsentierte, erzählen von den Mythen Griechenlands und stellen ihnen die Not und das Leid der Menschen in unserer Gegenwart und der jüngeren Geschichte gegenüber.5

http://www.tillneu.de/pages/aktuelles/6-koren-und-rettungswesten-Lesbos_b.jpg„Schwimmwesten auf Lesbos und Geburt der Venus“. Till Neu 2018. (Siehe Beitrag in diesem Heft zu „Bilder für Griechen­land“).

Die Reparationsfrage bleibt offen

Allein das im vergangenen Jahrzehnt angerichtete Leid bietet genug Anlass zur Kritik. Die maßgebende Rolle der Bundesregierung in der Orchestrierung der EU-Politik gegen die Menschen in Südosteuropa ist umso beschämender, bedenkt man, was Deutschland dort bereits vor über 70 Jahren angerichtet hat. Bei der Unterwerfung Griechenlands ab April 1941 gingen die deutschen Besatzer nach ähnlichem Muster vor, wie auf dem Balkan und in der Sowjetunion: Kleinere Ortschaften wurden systematisch dem Erdboden gleichgemacht, tausende Zivilisten von der Wehrmacht ermordet, die griechischen Juden nach Ausschwitz deportiert. Darüber hinaus löste die Plünderung des Landes eine Hungersnot aus, der bis 1943 schätzungsweise 250.000 Menschen zum Opfer fielen.

Wer erzählt diese Geschichte außerhalb Griechenlands? Die Regisseurinnen Barbara Englert und Leonie Englert waren im Oktober 2019 im Filmhaus Saarbrücken zu Gast, um einen Film zu präsentieren, der das Publikum nicht schont. „Eingebrannt – Frauen auf Kreta 1941-1945“ erzählt die Geschichte kretischer Frauen nach dem Überfall ihrer Insel durch die deutschen Fallschirmjäger. Die Kreterinnen sprechen von ihrem Widerstand und ihrer Solidarität, den Ängsten und dem Überlebenskampf zu Zeiten der Besatzung auf einer Insel, die viele nur als Urlaubsparadies kennen.6

Die deutsche Politik hat sich wie in zahlreichen anderen Fällen nach 1945 darauf berufen, dass Reparationen erst abschließend verhandelt werden könnten, wenn Deutschland einen Friedensvertrag und somit echte Souveränität erhielte. Seitdem spätestens die Wiedervereinigung diese Bedingung faktisch erfüllt hat, heißt es, mögliche Ansprüche Griechenlands seien nach so langer Zeit verjährt. Somit bleiben die vorläufigen Zahlungen, welche die BRD in den fünfziger und sechziger Jahren im Rahmen sogenannter Globalabkommen gegenüber der westlichen Welt tätigte, bis heute der einzige Ansatz zu einer Entschädigung. Von einer vollständigen Anerkennung der Opfer und Schäden, über deren finanzielle Entschädigung erst noch zu verhandeln wäre, bleibt Deutschland weit entfernt.

Fazit

In den ersten fünf Jahren ihres Bestehens ist es der Griechenland-Solidarität gelungen, mehrmals im Jahr engagierte Künstlerinnen und Wissenschaftler für Auftritte in Saarbrücken zu gewinnen. Dies wäre nicht möglich gewesen ohne zahlreiche Kooperationspartner, darunter insbesondere die Peter Imandt Gesellschaft, die Heinrich Böll Stiftung Saar und der buchladen im Nauwieserviertel.

Der Fokus der Gruppe hat sich dabei geweitet: von Griechenland zu Europa, von der Finanzkrise zu Fragen der Sozialpolitik und Erinnerungsarbeit. Findet sich in Saarbrücken für diese schwierigen Themen ein Publikum? Sollte „Griechenland“ noch im Titel stehen?

Es ließe sich mit einer gemeinsamen Interessenslage der Menschen an der Saar und rund um die Peleponnes argumentieren. Ist nicht das Saarland das Griechenland Deutschlands? Ein kleines Land, das erst etwas verspätet zur großen Gemeinschaft hinzustoßen durfte, in dem Produktivität und Einkommen im Vergleich zur Konkurrenz eher niedrig, die Schulden höher sind; ein Land das manchmal in der Presse belächelt wird und dem vorgehalten wird, auf die falschen Branchen gesetzt zu haben – es ließen sich Parallelen finden.

Doch natürlich ist nicht alles gleich. Die negativen Auswirkungen des Brexits auf den Absatz der saarländischen Industrie zeigen, dass unser Bundesland es bisher durchaus verstanden hat, vom EU-Binnenmarkt zu profitieren. Im Gegensatz dazu geriet die griechische Industrie unmittelbar nach dem EG-Beitritt 1981 unter die Räder des europäischen Standort-wettbewerbs. Das BIP pro Kopf ist in Griechenland nur halb so hoch wie im Saarland. Und mit Blick auf die historischen Unterschiede wurde schließlich niemand in Athen oder auf Kreta zur Abstimmung gebeten, ehe die Wehrmacht einmarschierte.

Die Griechenland Solidarität hält gleichwohl daran fest, dass eine Auseinandersetzung in Saarbrücken mit Krisen und Gewalttaten, ob hier oder zweieinhalbtausend Kilometer entfernt, ob in der Gegenwart oder vor über 70 Jahren lohnenswert und notwendig ist. Die übergreifenden Ziele der Gruppe sind nach wie vor Aufklärung über die europäischen Verhältnisse und praktische Solidarität mit den Opfern.

Anmerkungen

1. Lesung „Janis Varoufakis, Die ganze Geschichte“ am 27.02.2019 im Theater im Viertel mit Rainer Iwersen, Ulrike Knospe und Christian Bergmann von der Bremer shakespeare company.

2. Vortrag „Wasser ist Menschenrecht – Der Kampf um die Wasserprivatisierung in Europa an Beispielen in Griechenland, Berlin, Saarbrücken“ von Claus Kittsteiner am 31.01.2017 im NN19.

3. Zu finden unter: https://www.griechenlandsolidaritaet-sb.de/2019/07/20/lasst-euch-nicht-verbilden/

4. Aktion „Lasst euch nicht verBILDen“ am 19.07.2019 bei der Eröffnung der Ausstellung „BildRaum. Menschen im Chefbüro bei Bild“ im Deutschen Zeitungsmuseum Wadgassen.

5. Ausstellung „Bilder für Griechenland“ von Till Neu am 05.06.2019 in der Kettenfabrik, Sankt Arnual

6. Dokumentarfilm „Eingebrannt – Frauen auf Kreta 1941-1945“ am 15.10.2019 im Filmhaus Saarbrücken

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